Wie Amundi zum größten Vermögensverwalter Europas aufstieg - Capital.de

2022-12-02 19:12:55 By : Ms. Jane Bian

Aus der Gare Montparnasse strömen in der Früh unablässig Menschen auf die Straßen. Das Bahnhofsviertel südlich der Seine ist eine der eher glanzlosen Gegenden von Paris. Auch dem Glas-und-Stahl-Klotz, der neben dem Schlund der Station aufragt, fehlt jede Anmut. Da taucht ein Mann aus der Menge auf, der mit mürrischem Blick und schleppendem Gang auf den Bürobau zustrebt. Er ist nicht groß und nicht klein, alles in allem unauffällig. An der rechten Hand lässt er eine lederne Aktentasche schlenkern, ins Auge fallen vorerst nur die klobigen Schuhe, mit denen er eine Drehschleuse durchquert, um sich vor dem Aufzug aufzustellen.

Die Mitarbeiter im Foyer bleiben auf Abstand. „Da ist er“, flüstert jemand. Die Aufzugtür öffnet sich, aber keiner der wartenden Kollegen steigt hinzu. Alle folgen einer ungeschriebenen Regel, von der man hier rasch erfährt: Niemals betritt jemand unaufgefordert zusammen mit dem Chef die Kabine nach oben.

So beginnt der Tag bei Amundi, dem Finanzimperium aus Paris, das für Anleger so viel Geld wie sonst niemand in Europa in Aktien, Anleihen und Firmenanteile steckt. Und er beginnt mit einem Widerspruch: Unbekannt, unauffällig, aber machtbewusst und routiniert – so wie Vorstandschef Yves Perrier morgens ans Werk schreitet, bewegt sich das ganze Haus auf sein Ziel zu, immer tiefer ins Bewusstsein der Anleger und in Unternehmen vorzudringen.

Die Firma mit dem wenig geläufigen Kunstnamen ist heute Nummer neun der globalen Vermögensverwalter – ein Geschäft, das sonst Amerikaner beherrschen. 1,5 Billionen Euro managen die Franzosen, und sie wollen weiter. „In zwei Jahren wollen wir gemessen an unserem Wachstum, unserer Rentabilität und unserer Verpflichtung zur Nachhaltigkeit zu den Top fünf der Branche gehören“, sagt Perrier ( mehr über seine Deutschland-Pläne im Interview ).

Ohne Skrupel und mit der Präzision eines Feldherrn sichern sich die Franzosen mit Übernahmen den Zugang zu Bankschaltern und Anlageberatern in ganz Europa. „Amundi expandiert aggressiv“, sagt Ali Masarwah vom Fondsanalysehaus Morningstar. Zuletzt schlugen sie 2016 bei der Unicredit-Tochter Pioneer zu, seither sind sie auch in den Filialen der HypoVereinsbank präsent.

Die zumindest in Deutschland bei Anlegern verbreitete Skepsis gegenüber Finanzmärkten im Allgemeinen und gegenüber der Börse im Speziellen schreckt die Franzosen nicht. „Das ist erst der Anfang“, sagt ein führender Amundi-Manager. „Viele Rentensysteme sind am Limit“, frohlockt Amundi-Manager Pascal Duval, Chef der globalen Retail Solutions. „Der Fondsindustrie wird eine wichtige Rolle dabei zukommen, diese Sparlücke zu schließen.“

Einer der wichtigsten Vorteile gegenüber der Konkurrenz ist schiere Größe: Unternehmenschef Perrier sagt, er wolle „Größenvorteile ausspielen“, er kopiere „exakt die Plattformstrategie der Autohersteller“.

Einheitliche Strukturen im Hintergrund, etwa bei der IT, bilden eine machtvolle Maschine. „Ein Flow-Monster“ nennt voll Ehrfurcht der Manager eines Konkurrenten den Amundi-Apparat. Normalerweise heißen so in der Branche – wenig schmeichelhaft – Großbanken, die täglich mit Hunderten Milliarden hantieren. Jeder Angestellte von Amundi – vom Boten bis zum Chef – nimmt rein rechnerisch mehr als 1 Mio. Euro im Jahr ein. Beim Marktführer Blackrock liegt der Wert um fast ein Fünftel niedriger, bei der größten deutschen Fondsgesellschaft, der Deutsche-Bank-Tochter DWS, ist es die Hälfte.

Vermögensverwaltung ist ein brutales Skalengeschäft, je größer eine Fondsgesellschaft, desto effizienter kann sie arbeiten und desto günstiger ihre Produkte anbieten. Genau das machen die Franzosen vor und setzen damit die Konkurrenz unter Druck. „Wir erwarten, dass die Einnahmen der Branche wegen des Preisverfalls bei Fonds künftig im Schnitt nur noch um ein Prozent wachsen. Bislang hat sie hohe einstellige Raten verzeichnet“, sagt Matthias Hübner von der Beratung Oliver Wyman. „Größe zieht Größe an“, sagt Hübner. Es ist wie ein Magnetfeld.

Der Fondsriese aus Paris pflegt mit großem Einsatz ein Doppelgesicht. In der Szene ist Amundi als brutaler Angreifer bekannt, der mit üppigen Aufschlägen um Mitarbeiter wirbt und Konkurrenten mit Dumpingpreisen Kunden abjagen will. So gibt es bei den Franzosen einige ETFs inzwischen für laufende Gebühren von 0,05 Prozent pro Jahr, da staunt selbst manch hart gesottener Manager aus den USA.

In der Öffentlichkeit gibt derselbe Akteur gern die weichen Züge des freundlichen Europäers vor, der mit Abscheu auf das Treiben der dominanten Angelsachsen im Markt blicke. „Unsere Firma ist nicht am Rand eines Tradingrooms an der New Yorker Wall Street entstanden, gegründet von Leuten, die vor allem eines wollten: Geld, Geld, Geld“, sagt ein führender Amundi-Mann.

Yves Perrier schickt einen treueheischenden Blick aus seinen braunen Augen, mit denen er blinzeln kann wie ein gutmütiger Großvater. Dann hebt er zu einer großen Rede über die europäische Kultur und hiesige Werte an. „Wir sind tief verwurzelt“, sagt er. Der Chef ist nach Dienstbeginn in einen Konferenzraum auf der Vorstandsetage gekommen, hat aber vorher noch die dicken Botten durch bequeme Loafer ersetzt. Die streckt er jetzt unter dem Tisch aus.

„Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass wir eine europäische Fondsbranche haben“, sagt er. Das zielt natürlich vor allem auf Blackrock. Perrier ist nicht verborgen geblieben, wie Rolle und Einfluss der US-Fondsgesellschaft immer wieder kritisch diskutiert werden. Deshalb hebt er verneinend den Zeigefinger, wenn mal wieder irgendwo behauptet wird, Perrier wolle das europäische Blackrock schaffen.

Und das mit der Verwurzelung ist nicht mal ganz falsch. Im vergangenen Jahr hat sich Amundi etwa bei einer kleinen Firma in der ostfranzösischen Franche-Comté eingekauft, die die Tradition der Saucisse de Montbéliard am Leben erhält, einer geräucherten Wurstspezialität von dort. Nach der Übernahme von Pioneer in Italien legten sie dort einen Fonds auf, mit dem Anleger in Schinken und Parmesan investieren können, um den Herstellern Liquidität zu verschaffen, während die Edelprodukte in den Kellern reifen. Im Alpen-Departement Haute-Savoie an der Schweizer Grenze hält ein Amundi-Fonds eine Reihe von Minifirmen am Laufen, die sich einer hier traditionellen Metallumformtechnik verschrieben haben – auch wenn die Performance des Fonds bedrückend ist.

Solche Beteiligungen sind Randgeschäfte im Amundi-Reich, aber sie halten die Verbindung zum Hauptaktionär Crédit Agricole (CA) aufrecht, dem Zentralinstitut der französischen Genossenschaftsbanken, die sich in der Provinz um ebensolche Firmen kümmern. Es kommt nicht von ungefähr, wenn Perrier heute noch gern auf seine Herkunft aus der Haute-Savoie verweist, ebenjener abgelegenen Region, in der sein Fonds Metallbetriebe mit Kapital versorgt. Hier war sein Großvater Kleinbauer, und Perrier hält regelmäßig Kontakt zur lokalen Sektion der Landwirtschaftsbank CA.

Gleichzeitig herrscht bei Amundi die alte französische Bankenherrlichkeit, was das Verständnis von Autorität und Hierarchie angeht – nicht nur bei der Rangfolge am Fahrstuhl. Perrier mag seine Verbindungen in die Provinz pflegen. In Paris trägt er stolz die blaue Rosette am Revers, die ihn als Offizier des nationalen Verdienstordens ausweist. Er ist Mitglied im Siècle, dem exklusivsten der Pariser Eliteklubs, und mischt mit in der Lobby des Finanzplatzes Paris. „Er ist ein Kriegsherr“, charakterisiert Ex-Rothschild-Vorstand Jean-Hervé Lorenzi den Amundi-Chef, beide tauschen sich gern aus.

Sein Haus führt Perrier streng zentralistisch. Wer aus dem Management beim Chef präsentieren muss, lässt sich schon mal vorher von externen Beratern darauf vorbereiten, berichten Veteranen. Wenn einer nicht alle Zahlen parat habe, gebe es Ärger. „Sie werden immer ein Problem haben, wenn Sie die Zahlen Ihres Geschäfts nicht kennen“, sagt der Chef selbst dazu. Spricht man die Deutschland-Chefin Evi Vogl darauf an, befindet sie: „Wir wären nicht so weit, wenn es nicht eine gewisse Detailliebe für Zahlen gäbe.“

Der Chef hält sich zugute, er habe die Einzelheiten und die Perspektive zugleich im Blick: „Mir hat mal jemand gesagt: ‚Was mich an dir verblüfft, ist, dass du eine Vision hast, aber auch die Details durchblickst‘“, erzählt er. „Man muss regelmäßig checken, dass auch täglich das umgesetzt wird, was man im Puls hat.“

Das war tatsächlich nötig angesichts der Vorgeschichte. Amundi ist ein Kind der großen Finanzkrise und zugleich der kleinteiligen, föderal organisierten und traditionsverhafteten Bauernbank, die bis heute fast 70 Prozent der Aktien der Fondsgesellschaft kontrolliert. Die Kassen der französischen Landwirte und ländlichen Kleinunternehmer hatten stets recht solide gewirtschaftet, doch in der Krise wurden auch sie in Mitleidenschaft gezogen. Ihre Pariser Investmentbank Calyon hatte sich mit giftigen Subprime-Papieren vollgesogen.

Da auch Konkurrent Société Générale (SocGen) angeschlagen war, strichen die erzürnten CA-Regionalkassen ihre Investmentbank zusammen und fusionierten die Vermögensverwaltung mit der SocGen-Tochter. Chef wurde mit Perrier ausgerechnet der Vize von Calyon.

Wenn man den Vorstandschef heute nach persönlichen Lektionen aus der Finanzkrise fragt, weicht er aus und mokiert sich dann über die damals üblichen Finanzinnovationen, die doch keine waren. Perrier und seine Leute profitierten am Anfang von den robusten Vertriebsnetzen von CA und SocGen in Frankreich. Crédit Agricole hat in der Provinz teilweise Marktanteile von über 50 Prozent. Das ist eine ungeheure Basis für das Geschäft der Vermögensverwaltung: Denn viele Mittelständler legen ihre Gewinne lieber an, als diese zu reinvestieren – eine Kehrseite der altbekannten Wachstumsschwäche des Landes.

Aus der Stärke der neuen Firma kaufte Amundi bald in den USA, Irland, Österreich und in Italien zu und ging zwischendurch noch an die Börse. Beim Kauf von Pioneer 2016 konnte Perrier auf alte Bekannte vertrauen: Bei Unicredit war inzwischen Jean Pierre Mustier Chef, einst der Investmentbankvorstand von Société Générale. Man kennt sich eben.

Dass Amundi seitdem der Aufstieg gelungen ist, ist umso erstaunlicher, weil die Qualität der Fonds bestenfalls Durchschnitt ist. Michael Klimek, Berater bei Dolphinvest, formuliert es vornehm: „Amundi glänzt bei der Produktqualität nicht überall.“ Morningstar-Analyst Masarwah fasst es schonungsloser zusammen: „Im Saldo haben sie viele schlechte Fonds.“ Auf einer Skala von eins bis fünf erreichen die von Morningstar bewerteten Amundi-Fonds 2,88 und damit weniger als den Durchschnitt, den Morningstar bei drei ansetzt. Perrier wehrt sich: Schlechte Fonds seien geschlossen worden, die Qualität werde besser. Masarwah überzeugt das nicht: „Beim Anleger bleibt hängen, was die Fonds bisher geleistet haben, die Investmenterfahrung ist also nicht gut.“

So ist Amundis Aufstieg auch eine Lehre über den Fondsmarkt und die Stellung der Berater: Viel zu oft kaufen Kunden nicht bewusst einen Fonds, sondern sie lassen sich einen verkaufen. In diesem Geschäft profitieren vor allem die Fondsanbieter.

Diese Systematik stets im Hinterkopf, hat Amundi zwei neue Wachstumsfelder erkoren. Zum einen preist sich der Konzern als Vorreiter für umwelt- und sozialverträgliche Investments. Allerdings gehen die Ansätze der Franzosen nicht groß über das hinaus, was andere Anbieter schon machen. Kein Wunder, dass die Konkurrenz ätzt: „Die setzen im Wording stark auf Nachhaltigkeit“, sagt der Manager eines Wettbewerbers.

Zudem wollen die Franzosen abseits von Europa zulegen: in Asien, was Branchenkenner geschickt finden. „In Asien können Fondsanbieter stärker wachsen als in Europa oder den USA, weil die Mittelschicht dort massiv wächst und Ersparnisse anhäuft“, sagt McKinsey-Berater Philipp Koch. Heute stammen bereits fast 15 Prozent des verwalteten Vermögens aus Asien. Künftig werden sich die Verhältnisse sogar stärker ändern: In Europa kamen 2018 noch 14,2 Mrd. Euro neu in Amundi-Fonds hinzu, in Asien waren es 26,8 Mrd. Euro.

Der Herr des Wachstums sitzt am Tisch und malt einen großen dicken Pfeil unter seinen Sprechzettel, während er redet. Der Pfeil zeigt nach oben. Amundi will noch weiter, auch wenn Perrier in diesem Jahr das Rentenalter erreicht. Egal, sagt Perrier, er mache erst einmal weiter, die Mannschaft sei gut und die Möglichkeiten immens. Was sollte uns stoppen, sagt sein fester Blick.

Der Beitrag ist in Capital 07/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay

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