Energieproteste: „Es geht vor allem um Unzufriedenheit und geringes Vertrauen“

2022-12-02 19:59:40 By : Ms. Sarah Shi

Entlastungen, wie Gaspreisbremse und Soforthilfe, werden nicht dazu führen, dass die Proteste abebben werden, sagt Extremismusexperte Axel Salheiser.

„Jetzt Nord Stream reparieren“, „Schluss mit der Manipulation durch Medien“, „Schützt eure Kinder vor dem Masken-Terror“ – drei Plakate, die Teilnehmer:innen während einer Demonstration in Frankfurt (Oder) im Oktober in die Höhe strecken. Drei Plakate, die zeigen, wie verschieden die Gründe sind, im Herbst und Winter 2022 in Deutschland auf die Straßen zu gehen. Oder sind gar nicht so verschieden?

Tausende Menschen demonstrieren aktuell wöchentlich an vielen Orten in Deutschland. Worum geht es bei den Protesten? „Der augenscheinliche Grund, sind schon die Unzufriedenheit mit der Energiepolitik, der Inflation und Regierungspolitik in Bezug auf den Ukraine-Krieg“, sagt Axel Salheiser im Gespräch mit BuzzFeed News DE. Er ist Soziologe, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft und forscht zu Rechtsextremismus.

Die Redebeiträge und Transparente bei den Protesten erwecken laut Salheiser jedoch den Eindruck, dass ein großer Teil der Demonstrationsteilnehmer:innen nicht nur aufgrund einer belastenden finanziellen Situation in der Energiekrise auf die Straße geht, „sondern sie motiviert sind, ihr generalisiertes Misstrauen gegenüber der Politik auszudrücken.“ Es verbinden sich Protestmotive, wie eine Unzufriedenheit mit politischen Institutionen oder eine generalisierte Systemkritik, die es schon vor der aktuellen Energiekrise und dem Ukraine-Krieg gab. „Und die Proteste finden vor allem dort statt, wo vorher schon die Corona-Proteste und davor die Anti-Asylproteste stattgefunden haben“, sagt Salheiser

Der Unterschied zu den Anti-Asylprotesten sei jedoch die allgemeine Betroffenheit. Die ist in der Energiekrise und Corona-Pandemie viel größer. Und trotzdem gehen bei den Energieprotesten nicht nur Menschen auf die Straßen, die wenig Einkommen haben und deren Existenz die hohen Gas- und Strompreise bedrohen. „Bei den Energieprotesten gehen Menschen auf die Straße, die ihre Statusverlustängste artikulieren. Das heißt, das sind Menschen, die gut situiert sind. Da sind Mittelstandvertreter:innen und Klein-Unternehmer:innen dabei, die die Ressourcen haben, Demos zu organisieren“, sagt Salheiser. Und trotzdem könne man nicht davon ausgehen, dass wenn eine Lösung gefunden würde, also zum Beispiel eine großzügige Entlastung von Unternehmer:innen oder privaten Haushalten, „dass diese Proteste einfach abebben würden.“

Nach den Pegida-Demonstrationen 2015 und angesichts vieler Demonstrationen in AfD-Hochburgen in Ostdeutschland, stellen sich Beobachter:innen immer wieder die Frage, nach der Rolle von rechtsextremen Netzwerken und Organisationen bei den aktuellen Protesten. Dass die Proteste durch Rechtsextreme vereinnahmt werden, sei nach wissenschaftlichen Analysen nicht korrekt, sagt Salheiser. „Diese rechtsextremen Akteur:innen sind vielmehr Kristallisationskerne und die Treiber von einem großen Teil dieser Proteste, vor allem in Ostdeutschland.“ An diese Kristallisationskerne schließen sich nicht klar der rechtsextremistischen Szenen angehörige Menschen an, weil sie für ihre Proteste kein anderes Ventil finden, erklärt der Rechtsextremismus-Experte. „Bei diesen Demonstrationsteilnehmer:innen beobachten wir eine erstaunliche Kritikabwehr, selbst wenn die Demonstrationen durch jahrzehntelange lokal bekannte Neonazigrößen dominiert worden sind.“ Auch die Sichtweise, dass sich bei den Protesten Rechtsextreme und Neonazis als normale Bürger:innen aus der Mitte der Gesellschaft „verkleidet“ haben, sei falsch. Bürger:innen mit rechtsextremen Einstellungen seien Teil der regionalen Zivilgesellschaft und sowieso Vorort Teil des Demonstrationspublikums.

Ukraine-Krieg, Corona-Schutzmaßnahmen, Impfen, Energiekrise, oder Inflation, die an alten Kassenzetteln sichtbar wird: Es werde zwar anlassbezogen mobilisiert, sagt der Experte, „aber es geht vor allem um die Artikulation einer Unzufriedenheit und geringes Vertrauen in politische Institutionen bis hin zur antidemokratischen Hetze gegen politische Akteur:innen.“ „Widerstand lässt sich nicht verbieten“ steht auf einem Banner bei einer Demonstration im November in Schwerin. Bei vielen Menschen sei die Distanz und die Skepsis gegenüber dem politischen System derart ausgeprägt, dass sie reflexhaft die Kritik an den Artikulationsweisen ihres Protests abwehren. „Das ist eine Entwicklung, die Sorgen bereitet“, sagt Salheiser. CDU-Vize Carsten Linnemann sagte im ZDF, die Politik und Parteien hätten sich insgesamt zu sehr von den Wähler:innen und ihrer Lebensrealität entfernt und würden deshalb als „die da oben“ wahrgenommen. Um den Eindruck zu widerlegen, müssten alle Parteien „mal ein Zeichen“ setzen. Was für ein Zeichen muss das sein? „Die Politik muss stärker für Verständnis werben, dass Situationen in diesen Krisen mit Unsicherheit verbunden sind, dass es komplexe Herausforderungen sind, in denen man teilweise nur auf Sicht fahren kann“, fordert Salheiser.